Vermehrte Interaktionen zwischen jungsteinzeitlichen Einwanderern und Jäger-Sammlern in Westeuropa

Anhand archäogenetischer Daten für die Zeit des Übergangs von der Mittel- zur Jungsteinzeit vor rund 7500 Jahren in Westeuropa, ist es einem deutsch-französischen Forschungsteam gelungen, einen für Europa ungewöhnlich hohen Grad an Variabilität genetischer Vermischung zwischen neolithischen Frühbauern und regional ansässigen Jäger- und Sammlergruppen nachzuweisen.

29. Mai 2020

Die frühbäuerliche Lebensweise des Neolithikums (Jungsteinzeit), gekennzeichnet durch die Ausbreitung der Landwirtschaft, die Domestizierung von Tieren und die Entwicklung neuer Technologien, entstand vor etwa 12.000 Jahren im Nahen Osten. In den nachfolgenden Jahrtausenden breitete sie sich über Europa aus, insbesondere über zwei Hauptverbreitungsströme, zum einen entlang des Donautals und zum anderen entlang der Mittelmeerküsten. Vor etwa 7000 Jahren erreichte das Neolithikum auch die Atlantikküste. Archäogenetische Daten von europäischen Frühbauern deuten darauf hin, dass die Ausbreitung der Landwirtschaft durch expandierende Bevölkerungsgruppen erfolgte, welche sich zunächst nur wenig bis gar nicht mit den einheimischen Jäger-Sammlern vermischten. Für Frankreich lagen bis jetzt jedoch noch keine archäogenetischen Daten vor.

„Das Gebiet des heutiges Frankreich ist eine wichtige Schlüsselregion in Westeuropa, denn dort überlappen sich die beiden Ströme der Neolithischen Expansion und zugleich erwarten wir dort Rückzugsgebiete der Jäger-Sammler-Gruppen. Wenn wir also verstehen, wie alle Gruppen dort miteinander agierten, hätte man einen wichtigen Teil der Neolithisierung Europas abgedeckt“, sagt Wolfgang Haak, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und leitender Autor der Studie. "Die neuen Daten zeigen ein wesentlich komplexeres Bild als anderswo in Europa, mit stärkerer und auch stark variierender Interaktion zwischen Frühbauern und Jäger-Sammlern."

Diese Interaktionen scheinen von Region zu Region sehr unterschiedlich gewesen zu sein, was ein vielfältiges kulturelles Mosaik im frühneolithischen Westeuropa belegt. Ein internationales Forschungsteam aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena, des PACEA Labors[1] in Bordeaux, dem CEPAM Labor[2], des RGZM[3] und weiteren internationalen Institutionen hat nun in einer Studie die biologischen Wechselwirkungen während dieser Übergangszeit untersucht. Die in Science Advances veröffentlichte Studie berichtet über neue genomweite Daten von 101 prähistorischen Individuen, die vor rund 9000 bis 5000 Jahren lebten und aus 12 archäologischen Fundstätten im heutigen Frankreich und Deutschland stammen.

Hoher Anteil von Jäger-Sammler-Genen im Erbgut früher französischer Bauern

Die neuen Ergebnisse belegen ein höheres Maß an Vermischung genetisch relativ unterschiedlicher Populationen, das heißt zwischen expandierenden Frühbauern und lokal ansässigen Jäger-Sammlern in Frankreich. Das resultierende Mischungsverhältnis in dieser Region ist beispiellos für das übrige Europa in diesem frühen Stadium der Neolithischen Expansion. In Südfrankreich ist der Jäger-Sammler-Anteil mit durchschnittlich 31 Prozent besonders hoch, im Vergleich dazu liegt er in Mitteleuropa bei drei Prozent und auf der Iberischen Halbinsel bei 13 Prozent.

Faszinierenderweise betrug bei einer Person aus dem Pendimoun-Gebiet in der Provence (5480-5360 v. Chr.) der genetische Jäger-Sammler-Anteil sogar 55 Prozent. Zudem konnte das Team errechnen, dass die genetische Beimischung etwa vier Generationen zurücklag. Das bedeutet, dass die Beimischung erfolgt sein musste, kurz nachdem sich die ersten Frühbauern an der südfranzösischen Küste niedergelassen hatten. „Diese Ergebnisse deuten auf kontinuierliche Kontakte zwischen beiden Gruppen seit mindestens einem Jahrhundert hin“, sagt Maïté Rivollat, wissenschaftliche Mitarbeiterin im INTERACT-Projekt und Erstautorin der Studie.

Genetische Belege für die zwei Routen der neolithischen Expansion

Die Tatsache, dass die europäischen Jäger-Sammler genetisch betrachtet regionale Unterschiede aufwiesen, half dem Team die Dynamik der Vermischung in verschiedenen europäischen Regionen nachzuvollziehen. Neolithische Frühbauern in Mitteleuropa trugen einen sehr geringen Jäger-Sammler-Anteil in sich, welcher bereits in Südosteuropa in ihr Erbgut und von dort aus mit nach Mitteleuropa gelangte. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der raschen Ausbreitung von neolithischen Gruppen mit nur geringem Kontakt zu den lokalen Jägern-Sammlern. Andererseits trugen neolithische Bauern westlich des Rheins (Frankreich, Spanien, Großbritannien) eine genetische Komponente in sich, welche von dort ansässigen Jäger-Sammlern vererbt wurde, was sowohl auf eine andere Route als auch auf eine spätere und lokale Vermischung hindeutet.

Die neu gewonnenen Daten unterstreichen die Komplexität und regionale Variabilität von biologischen und kulturellen Interaktionen während der neolithischen Expansion. „Die Studie zeigt, dass wir mit gezielten Beprobungsstrategien die regionalen Dynamiken zwischen Jäger-Sammlern und neolithischen Frühbauern deutlich genauer entschlüsseln können.“, fasst Rivollat zusammen. „Dank stetig wachsender Datenmenge erhalten wir so die nötige genetische Auflösungsstärke, um biologische Vorgänge der Vergangenheit nachzuzeichnen und deren Beziehungen zu kulturellen Phänomenen zu verstehen.“



[1] de la Préhistoire à l’Actuel: Culture, Environnement et Anthropologie. Bordeaux, France

[2] Cultures et environnements. Préhistoire, Antiquité Moyen Âge. Nice, France

[3] Roemisch-Germanisches Zentralmuseum / Leibniz Research Institute for Archaeology. Mainz, Germany

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