Eine Sprache – viele Geschichten
Sprachgeschichte verläuft nicht einheitlich, sondern der Wandel von Grammatik und Vokabular folgt unterschiedlichen Dynamiken
Eine groß angelegte Studie unter Leitung des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena zeigt, dass sich die grammatischen Strukturen einer Sprache in der Regel schneller verändern als ihr Vokabular. Dieses Ergebnis widerspricht einer lange gehegten Annahme in den Sprachwissenschaften, wonach die Grammatik tiefer in die Sprachvergangenheit zurückreicht. Die am 2. Oktober in PNAS veröffentlichte Studie basiert auf der Analyse von 81 austronesischen Sprachen, deren Wortschatz und grammatischen Strukturen detailliert in einer Datenbank erfasst wurden. Mit Hilfe komplexer phylogenetischer Modelle gelang es dem Forschungsteam zu bestimmen, wie schnell sich verschiedene Sprachkomponenten verändert hatten. Dabei unterschieden sich die Prozesse, die zu grammatischen Veränderungen führten, sehr deutlich von denjenigen, die das Vokabular prägten. Der Wortbestand änderte sich mehr, wenn neue Sprachen sich nach erfolgter Sprachteilung zu entwickeln begannen, während die grammatischen Strukturen stärker durch den Kontakt mit benachbarten Sprachen beeinflusst wurden.
Eine in der Linguistik viel diskutierte Frage lautet, ob sich die verschiedenen Komponenten einer Sprache (Grammatik, Morphologie, Phonologie, Lexikon) als integriertes System entwickeln und damit eine einheitliche Geschichte teilen oder ob die verschiedenen Aspekte unterschiedliche Entwicklungsschichten aufweisen. Hat vielleicht, wie Dialektologen schon lange vermuten, sogar jedes Wort seine eigene Geschichte? Die vorliegende Studie eines internationalen Forschungsteams des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte, des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik, der Australischen Nationaluniversität, der Universität Oxford und der Universität Uppsala untersuchte diese Frage anhand der grammatischen Strukturen und des Lexikons von 81 Sprachen der austronesischen Sprachfamilie. Unter Anwendung modernster computerbasierter Methoden analysierten die Wissenschaftler sowohl eine große Anzahl von Basiswörtern als auch eine große Anzahl grammatischer Elemente. Dieses Vorgehen ermöglichte einen sehr umfangreichen Vergleich der Sprachen und ihrer unterschiedlichen Komponenten.
Interessanterweise zeigte die Studie, dass sich die grammatischen Strukturen der Sprachen im Durchschnitt schneller veränderten als ihr Vokabular. "Wir fanden auffällige Unterschiede bei den Veränderungsraten des Basisvokabulars und der grammatischen Merkmale einer Sprache", erklärt Erstautor Simon Greenhill vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte. "Die grammatischen Strukturen änderten sich viel schneller und schienen eher durch benachbarte Sprachen beeinflusst zu sein, während sich das Lexikon stärker veränderte, wenn sich nach Sprachspaltung neue Sprachen herauszubilden begannen". Co-Autor Stephen Levinson fügt hinzu: "Dieser Befund war etwas überraschend, da viele dachten, dass uns die Grammatik tiefere Einblicke in die sprachliche Vergangenheit eröffnen könnte als das Vokabular.“ Levinson mahnt jedoch auch zur Vorsicht bei der Interpretation der Ergebnisse, da das Team ein sehr konservatives Vokabular mit einer ungefilterten Bandbreite grammatischer Variablen verglichen hat, und die austronesische Sprachfamilie sich bei der sukzessiven Besiedlung benachbarter Inseln in untypischer Art und Weise diversifiziert hat. „Klar ist jedoch“, fasst er zusammen, „Änderungen der Grammatik und des Wortschatzes sind nicht eng aneinander gekoppelt, nicht einmal innerhalb der einzelnen Zweige einer Sprachfamilie. Betrachtet man beide Aspekte, bringt das unsere Fähigkeit die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte einer Sprache zu rekonstruieren, deutlich voran.
Identifizierung und Abgrenzung als Antriebskräfte des sprachlichen Wandels
Zwar veränderten sich die grammatischen Strukturen im Durchschnitt schneller als das Vokabular einer Sprache, die Wissenschaftler fanden jedoch in beiden Bereichen sowohl Elemente mit geringer Veränderungsrate als auch Elemente, die sich schneller veränderten. Interessanterweise waren es tendenziell die den Sprechern weniger bewussten grammatischen Strukturen, die sich nur langsam veränderten. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass wenn zwei Sprachen aufeinander treffen oder sich eine Sprache in zwei Sprachen aufspaltet, die Sprecher der jeweiligen Sprache bestimmte Elemente betonen oder übernehmen, um sich von anderen abzugrenzen oder sich mit ihnen zu identifizieren. Wir alle wissen, wie leicht wir in unserer eigenen Sprache Akzente und Dialekte verschiedener Gruppen unterscheiden können und dass wir damit oftmals bestimmte Assoziationen verbinden. Bei den Menschen in der Vergangenheit war dies natürlich nicht anders und die Wissenschaftler vermuten, dass das eine der Hauptantriebskräfte der sprachlichen Differenzierung war. Wenn jedoch Sprecher eine subtile grammatische Struktur nicht wahrnehmen, werden sie nicht versuchen, diese Struktur zu ändern oder als Kennzeichen für die Identität der Gruppe zu nutzen. Deshalb bleiben diese sprachlichen Merkmale oftmals stabil. Darüber hinaus beobachteten die Wissenschaftler, dass die präzisen Merkmale, die über die Zeit stabil bleiben, für jede Sprachgruppe spezifisch sind.
Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass die Grammatik als Ganzes vermutlich kein besseres Werkzeug zur Erforschung des sprachlichen Wandels ist. Sie sind jedoch überzeugt, dass ein nuancierter Ansatz, der umfangreiche Datenbanken zu Grammatik und Lexikon mit computerbasierten Methoden kombiniert, einen tieferen Blick in die Vergangenheit eröffnen könnte. Studienleiter Russell Gray sagt: "Eine der wirklich spannenden Erkenntnisse dieser Studie ist, dass es uns dieser Ansatz erlauben könnte, zu erkennen, wann und wo die Sprecher verschiedener Sprachen vor vielen tausend Jahren miteinander interagierten".