Bislang größte Studie alter DNA beleuchtet das "Glockenbecherphänomen" im vorgeschichtlichen Europa
In der bislang größten Studie zu alter DNA hat ein internationales Forschungsteam unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena die DNA von 400 vorgeschichtlichen Skeletten aus ganz Europa untersucht. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die großräumige Verbreitung von glockenförmigen Gefäßen am Übergang zwischen Jungsteinzeit und Bronzezeit teils durch die Weitergabe von Ideen teils durch Migration erfolgte. Letzteres wird insbesondere für Großbritannien deutlich, welches einen einschneidenden Bevölkerungswandel aufweist. Die Studie wird am 21. Februar in der Zeitschrift Nature veröffentlicht.
Vor 4.700-4.400 Jahren breiteten sich in West- und Mitteleuropa Töpferwaren in einem neuen, glockenförmigen Stil aus. Ob die Verbreitung dieser „Glockenbecher“ -Gefäße im Zusammenhang mit großflächiger Wanderungsbewegung von Menschen erfolgte oder lediglich auf der Weitergabe neuer Ideen beruhte, ist seit mehr als einem Jahrhundert Gegenstand intensivster archäologischer Debatte. „Die Töpfe = Menschen“-Debatte ist eine der wichtigsten und am längsten diskutierten Fragen in der Archäologie“, sagt Ian Armit, einer der Hauptautoren der Studie und Archäologe an der Universität von Bradford in Großbritannien.
Jetzt zeigt eine neue Studie, die auf der Analyse der DNA von 400 vorgeschichtlichen Skeletten von Standorten in ganz Europa beruht, dass regional betrachtet beide Seiten Unterstützung finden.
So belegt die Studie einerseits, dass sich die Glockenbecherkeramik zwischen Mitteleuropa und der iberischen Halbinsel zunächst ohne nennenswerte Migration von Menschen verbreitete. „Die DNA von Skeletten, die mit Bestattungen der Glockenbecherkultur auf der iberischen Halbinsel in Verbindung gebracht werden, unterschied sich sehr von der mitteleuropäischer Skelette, welche ebenfalls Glockenbecherkeramik als Grabbeigabe haben“, erklärt Iñigo Olalde, Genetiker an der Harvard Medical School in Boston, USA und Erstautor der Studie.
„Dies ist der erste eindeutige, auf der Analyse alter DNA basierende Beleg, dass Töpfe nicht immer Hand in Hand mit Bevölkerungsgruppen gehen“, sagt David Reich, ebenfalls Hauptautor der Studie und Genetiker an der Harvard Medical School. „Die große Anzahl von Proben erlaubt es uns heute, ein sehr viel detaillierteres Bild früherer menschlicher Bevölkerungsgruppen zu zeichnen als noch vor wenigen Jahren.“
Genetische Umwälzungen in Deutschland und Großbritannien
In anderen Regionen breitete sich die Glockenbecherkeramik dagegen durch Migration aus. Wolfgang Haak, Ko-Hauptautor der Studie und Genetiker am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, erklärt: „2015 haben wir und andere gezeigt, dass vor etwa 4.500 Jahren mindestens 70 Prozent der Bevölkerung Deutschlands in Folge massiver Ausbreitung von Gruppen der osteuropäischen Steppengebiete ersetzt wurden. Diese neue Studie zeigt nun, wie diese Welle weiter nach Westen rollte.“
Am deutlichsten ist das Muster in Großbritannien. Von dort stammen 155 der Proben im Alter zwischen etwa 6.000 und 3.000 Jahren. Ein Zeitraum und eine Region, für die bislang keine genetischen Daten vorlagen. Der Genetiker Ian Barnes vom Londoner Natural History Museum, auch er Ko-Hauptautor der Studie, erläutert: „Wir fanden heraus, dass die Skelettreste von Individuen aus Großbritannien, die kurz nach dieser Zeit lebten, ein ganz anderes DNA-Profil aufweisen. Mindestens 90 Prozent der Vorfahren der Briten wurden durch eine Gruppe vom Kontinent ersetzt. Mit der Ankunft und Verbreitung der Glockenbecher gab es in Großbritannien zum ersten Mal eine Bevölkerung, die den heutigen Briten ähnlich in genetische Zusammensetzung, Haut- und Augenfarbe ist.“
Der Genetiker Carles Lalueza-Fox, Ko-Hauptautor vom Institut für Evolutionsbiologie in Barcelona, Spanien, fügt hinzu: "Die Glockenbecher gelangten nach Großbritannien, kurz nachdem die letzten großen Steine in Stonehenge aufgestellt worden waren. Die Tatsache, dass das Glockenbecherphänomen zu einem fast vollständigen Austausch der Bevölkerung führte, die diese riesigen steinernen Monumente errichteten, zeigt, wie einschneidend diese Ereignisse gewesen sein müssen.“
Weltweite Kooperation und neue, kosteneffiziente Analysemethoden
Die Studie ist das Ergebnis einer bislang beispiellosen, globalen Kooperation der führenden Labore zur Analyse alter DNA. Ko-Hauptautor Kristian Kristiansen, Archäologe an der Universität Göteborg in Schweden, sagt: „Verschiedene Teams hatten unterschiedliche Schlüsselproben und wir beschlossen, unsere Ressourcen zu bündeln, um eine Studie durchführen zu können, die nun weit aussagekräftiger ist, als wir es jemals allein hätten erreichen können."
Die erfolgreiche Analyse so vieler Individuen wurde auch durch zwei kürzlich eingeführte Methoden möglich, welche die Kosten für die Analyse der alten DNA pro Probe stark reduzieren. Eine dieser Methoden ist ein Verfahren, das es erlaubt, sich bei der Sequenzierung auf den Teil des Genoms zu konzentrieren, der für die Datenanalyse den größten Nutzen hat. Ko-Hauptautor Ron Pinhasi, Anthropologe an der Universität Wien, sagt: „Ein weiterer wichtiger Beitrag ist die Erkenntnis, dass die DNA-Erträge aus Felsenbeinknochen sehr viel höher sind, als aus allen anderen Teilen des Skeletts. Aus den meisten Skeletten, die wir analysierten, konnten daher qualitativ hochwertige Daten gewonnen werden.“
Reich fasst zusammen: „Zum ersten Mal haben wir es mit Stichprobengrößen zu tun, die mit denen genetischer Studien heute lebender Menschen vergleichbar sind. Solche Daten beeinflussen die Fragen, die wir über die Vergangenheit beantworten können, grundlegend.“
Die Studie wurde von einem internationalen Team von 144 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen unterschiedlicher Disziplinen wie Archäologie, Genetik und Anthropologie aus Institutionen in Europa und den Vereinigten Staaten durchgeführt.