Neue Erkenntnisse zur Ausbreitung des modernen Menschen in Eurasien
Technologische Fortschritte und multidisziplinäre Forschungsansätze verändern unser Verständnis davon, wann und wie der moderne Mensch Afrika verließ - und wen er auf seinem Weg getroffen hat
Die meisten Menschen kennen mittlerweile das traditionelle "Out of Africa"-Modell: Der moderne Mensch entwickelte sich in Afrika, breitete sich dann über Asien aus und erreichte mit einer einzigen Migrationswelle vor etwa 60.000 Jahren Australien. Technologische Fortschritte in der DNA-Analyse und anderen Techniken zur Identifizierung von Fossilien sowie eine Stärkung multidisziplinärer Forschungsansätze revidieren diese Geschichte jedoch. Jüngste Entdeckungen zeigen, dass Menschen bereits vor weit mehr als 60.000 Jahren mehrfach Afrika verließen und sich in Eurasien in vielen Regionen mit anderen Homininen vermischten.
Eine Übersichtsarbeit von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena und der Universität Hawai'i in Manoa fasst die aktuellen Forschungsergebnisse zur Ausbreitung von Frühmenschen aus Afrika heraus nach Asien zusammen und bestätigt: Die traditionelle Annahme einer einzelnen Ausbreitungswelle des anatomisch modernen Menschen aus Afrika heraus vor etwa 60.000 Jahren muss revidiert und um zahlreiche Facetten ergänzt werden. Die heute in Science veröffentlichte Analyse fasst die Fülle von neuen Entdeckungen zusammen, die aufgrund technologischer Fortschritte und interdisziplinärer Forschungskooperationen – in den letzten zehn Jahren aus Asien berichtet wurden. Sie belegen, dass Homo sapiens viel früher als bisher angenommen, auch in entlegene Regionen des asiatischen Kontinents und nach Ozeanien gelangten. Darüber hinaus wirft der Nachweis, dass sich moderne Menschen mit anderen bereits in Asien lebenden Homininen, wie Neandertalern und Denisovanern, vermischen, neue Fragen zur evolutionären Geschichte unserer Spezies auf.
Neues Modell: Mehre Ausbreitungswellen des modernen Menschen außerhalb Afrikas bereits vor 120.000 Jahren
Die Autoren führen die Ergebnisse mehrerer neuerer Studien zusammen, um das Bild der Ausbreitung des modernen Menschen von Afrika aus über den asiatischen Kontinent zu verfeinern. Während man in der Wissenschaft bislang davon ausging, dass der moderne Mensch Afrika vor etwa 60.000 Jahren mit einer einzigen Migrationswelle verlassen hat, haben neuere Studien Fossilien moderner Menschen in vielen Regionen Asiens identifiziert, die möglicherweise weit älter sind. Zum Beispiel wurden Homo sapiens Überreste an mehreren Orten in Süd- und Zentralchina gefunden, deren Alter auf 70.000 bis 120.000 Jahre datiert wurde. Weitere Funde zeigen, dass moderne Menschen bereits vor mehr als 60.000 Jahren Südostasien und Australien erreichten.
Andere neuere Studien bestätigen dagegen, dass alle heutigen nicht-afrikanischen Populationen Abzweigungen aus einer einzigen ungefähr 60.000 Jahre alten afrikanischen Population sind. Dies könnte darauf hindeuten, dass es bereits vor rund 120.000 Jahren mehrere kleinere Migrationswellen gab, denen eine große vor rund 60.000 Jahren folgte, die den Großteil zur genetischen Zusammensetzung allen heutigen Nicht-Afrikaner beisteuerte. Dennoch haben auch die früheren genetischen Beimischungen ihre Spur im Erbgut heutiger Menschen hinterlassen.
"Die ersten menschlichen Migrationen aus Afrika heraus vor weit mehr als 60.000 Jahren erfolgten wahrscheinlich durch kleine Gruppen von Jäger und Sammler und mindestens einige dieser frühen Ausbreitungen haben in heutigen menschlichen Populationen genetische Spuren hinterlassen. Ein späteres, großes "Out of Africa"-Ereignis hat wahrscheinlich vor etwa 60.000 Jahren oder später stattgefunden", erklärt Michael Petraglia vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte.
Mehrfache Kreuzungsereignisse
Hat sich der moderne Mensch mit anderen, älteren Homininen vermischt oder nicht? Diese Frage hat die neuere genetische Forschung eindeutig bejaht. Moderne Menschen vermischten sich nicht nur mit Neandertalern, sondern auch mit unseren kürzlich entdeckten Verwandten, der Denisovanern, sowie mit einer derzeit noch nicht identifizierten Population vormoderner Homininen. Eine Schätzung besagt, dass alle heutigen Nicht-Afrikaner 1-4% des Neandertaler-Erbgutes in sich tragen, während eine andere Gruppe schätzt, dass moderne Melanesier im Durchschnitt 5% Denisovan-Erbe haben. Insgesamt ist inzwischen klar, dass moderne Menschen, Neandertaler, Denisovaner und vielleicht auch andere Hominin-Gruppen zumindest teilweise zeitgleich und in den selben Regionen Asiens lebten und sich sicherlich vielerlei Gelegenheiten zu Interaktionen ergaben.
Die zunehmenden Hinweise auf Interaktionen legen nahe, dass auch die Verbreitung der materiellen Kultur komplexer ist als bisher angenommen. "Was wir in der Verhaltensaufzeichnung tatsächlich sehen, ist, dass die Verbreitung sogenannter moderner menschlicher Verhaltensweisen nicht in einem einfachen zeit-transgressiven Prozess von West nach Ost stattfand. Vielmehr müssen ökologische Variationen in Übereinstimmung mit Verhaltensvariationen zwischen den verschiedenen Hominin-Populationen in Asien während des späten Pleistozäns betrachtet werden", erklärt Christopher Bae von der Universität von Hawaii in Manoa.
Angesichts dieser neuen Entdeckungen ist unser Verständnis der menschlichen Migrationsbewegungen in der vorgeschichtlichen Welt vielschichtiger geworden, und noch bleiben viele Fragen offen. Die Autoren argumentieren für die Entwicklung komplexer Modelle der menschlichen Ausbreitung und für die Durchführung neuer Untersuchungen in den vielen Bereichen Asiens, in denen bisher keine Forschungsarbeiten durchgeführt wurden. Darüber hinaus wird es wichtig sein, Materialien, die vor der Entwicklung moderner analytischer Methoden gesammelt wurden, erneut zu untersuchen, um zu sehen, welche weiteren Erkenntnisse aus ihnen gewonnen werden können. "Zum Glück", so Katerina Douka, ebenfalls vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte, "wurden in den letzten Jahrzehnten immer mehr multidisziplinäre Forschungsprogramme in Asien gestartet. Die Erkenntnisse, die berichtet werden, tragen dazu bei, die Lücken in den evolutionären Aufzeichnungen zu schließen."
"Es ist eine aufregende Zeit für interdisziplinäre Forschungsprojekte in ganz Asien", fügt Bae hinzu.