Alte DNA enthült Herkunft von Minoern and Mykenern
Die minoische Zivilisation und ihr Gegenstück auf dem griechischen Festland, die mykenische Zivilisation, waren Europas erste schriftführenden Gesellschaften und die kulturellen Vorfahren des klassischen Griechenlands. Über die Herkunft der Minoer und ihre Beziehung zu den Mykenern hat die Wissenschaft lange Zeit gerätselt. Eine heute in Nature publizierte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die Minoer nicht kurze Zeit zuvor aus einer fortschrittlichen, entfernt gelegenen Region einwanderten, sondern tief in der Ägäis verwurzelt sind. Die Vorfahren von Minoern und Mykenern waren Bevölkerungsgruppen aus dem neolithischen Westanatolien und Griechenland. Und beide Gruppen sind genetisch sowohl miteinander als auch mit den modernen Griechen eng verwandt.
In der griechischen und europäischen Geschichte nehmen Minoer und Mykener einen bedeutenden Platz ein. Die minoische Kultur (um 2600 bis 1100 vor unserer Zeitrechnung) mit ihrer Linear-A-Schrift gilt als erste schriftführende Gesellschaft Europas. Da die Linear-A-Schrift und die auf Kreta ebenfalls verwendete Hieroglyphenschrift nie entschlüsselt werden konnten, sind die Ursprünge der Sprache, die sie repräsentieren, unbekannt. Sie sind jedoch sicher keine indoeuropäischen Schriften und unterschieden sich deshalb vom frühen Griechisch. Die mykenische Zivilisation (um 1700 bis 1050 vor unserer Zeitrechnung) hat ihren Ursprung auf dem griechischen Festland und kontrollierte schließlich auch nahegelegene Inseln, einschließlich Kreta. Ihre Linear-B-Schrift ist eine Frühform der griechischen Schrift.
Trotz der reichen archäologischen Vergangenheit haben die Ursprünge der Minoer die Wissenschaft lange vor ein Rätsel gestellt. Ihre kulturellen Innovationen, wozu neben dem ersten europäischen Schriftsystem, riesige Palastkomplexe und beeindruckende Kunstwerke zählen, scheinen isoliert auf Kreta entstanden zu sein. Dies gab Anlass zu der Spekulation, dass die Minoer aus einer weiter entwickelten Gesellschaft aus einer anderen Region in die Ägäis eingewandert sein mussten. Die Mykener mit ihren Wurzeln auf dem griechischen Festland scheinen viel von der minoischen Technik und Kultur übernommen zu haben. Es ist jedoch unklar, in welcher Verbindung beide Gruppen zueinander standen. „Wir wollten herausfinden, ob sich die Menschen, die wir heute als Minoer und Mykener bezeichnen, tatsächlich voneinander unterschieden oder nicht. Wie waren sie miteinander verwandt? Wer waren ihre Vorfahren? Und in welcher Verbindung stehen die modernen Griechen zu ihnen?” beschreibt Johannes Krause, Direktor am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena und einer der Leiter der Studie, die Fragestellungen.
Zur Beantwortung dieser Fragen hat ein internationales Forschungsteam die genomweiten Daten von 19 Individuen analysiert, darunter Minoer, Mykener, ein vom griechischen Festland stammendes steinzeitliches Individuum sowie bronzezeitliche Individuen aus Südwestanatolien. Durch einen Vergleich dieser Daten mit früher veröffentlichten Daten von fast 3.000 anderen Individuen, sowohl aus früheren Epochen als auch aus der modernen Zeit, konnten die Wissenschaftler die Beziehungen zwischen den Gruppen klären.
So fanden die Wissenschaftler heraus, dass die Minoer nicht aus einer entfernten Zivilisation einwanderten, sondern Einheimische waren, die von den ersten neolithischen Bauern Westanatoliens und der Ägäis abstammten: Bonzezeitliche Minoer, Mykener und ihre anatolischen Nachbarn teilten den Großteil ihrer genetischen Abstammung mit einer jungsteinzeitlichen Bevölkerungsgruppe Anatoliens und eine kleinere Komponente mit weiter östlich im Kaukasus und im Iran beheimateten Bevölkerungsgruppen. Bisher nahm man an, dass diese östlichen Abstammungslinien durch Hirtenvölker der Steppen aus dem Norden nach Europa gelangten, die selbst ebenfalls östlicher Abstammung waren.
Bisher unbekanntes Migrationsereignis?
Neben der engen Verwandtschaft zwischen Minoern und Mykenern stellten die Wissenschaftler jedoch auch einige spezielle Unterschiede fest. So wiesen die Minoer zwar die östliche Abstammung aber kein gemeinsames Erbgut mit den nördlichen Steppenvölkern auf. Bei den Mykenern findet sich dagegen sowohl östliches als auch nördliches Erbgut. Das lässt darauf schließen, dass das östliche genetische Erbe aus dem Kaukasus und dem Iran mindestens in einigen Fällen eigenständig nach Europa gelangte, vielleicht im Zusammenhang mit einer bisher unbekannten Wanderungsbewegung. Dieses Ergebnis zeigt auch, dass die Migration der Steppenhirten aus dem Norden bis auf das griechische Festland führte, aber die Minoer auf Kreta nicht erreichte. „Gerade angesichts der Tatsache, dass das griechische Festland und Kreta in der Bronzezeit kulturell aufs Engste miteinander verwoben waren, erstaunt es doch, dass sich beide Populationen genetisch so klar differenzieren lassen“, ergänzt Philipp Stockhammer von der Ludwig-Maximillians-Universität München, der als Archäologe von Beginn an in die Forschungen eingebunden war.
Die Studie trägt dazu bei, das Zeitfenster für die Ankunft der östlichen und nördlichen Vorfahren näher eingrenzen zu können. „Die genetischen Proben aus dem Neolithikum aus Griechenland bis hin zur endneolithischen Zeit rund 4100 vor unserer Zeitrechnung enthalten keine Spuren der Abstammung, weder von der einen noch der anderen der beiden Bevölkerungsgruppen. Das lässt vermuten, dass die Vermischung, die wir erkennen können, wahrscheinlich im Zeitfenster des vierten bis zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung aufgetreten ist”, erläutert David Reich von der Harvard Medical School sowie dem Broad Institute, ein weiterer Leiter der Studie. Um den Zeitpunkt dieser Ereignisse noch genauer bestimmen zu können, sind weitere Proben aus umfassenderen Zeiträumen und geografischen Regionen erforderlich.
Moderne Griechen eng mit Mykenern verwandt
Moderne Griechen zeigen einige zusätzliche Vermischungen mit anderen Gruppen und eine entsprechende Abnahme der Abstammungsmerkmale von den neolithischen Anatoliern. Zugleich sind sie mit den Mykenern der Bronzezeit eng verwandt. Das lässt vermuten, dass es eine hohe Bevölkerungskontinuität in Griechenland gegeben hat, diese aber nicht isoliert war.
„Es ist bemerkenswert, wie beständig die Abstammung der ersten europäischen Bauern in Griechenland und anderen Teilen Südeuropas ist. Das heißt aber nicht, dass die Bevölkerungsgruppen dort vollständig isoliert lebten. Vor der Zeit der Minoer und Mykener gab es mindestens zwei weitere Migrationsbewegungen in der Ägäis und später zusätzliche Vermischungen. Die Griechen waren immer im Wandel begriffen und erwarben im Laufe der Jahrhunderte genetische Anteile aus verschiedenen Migrationsereignissen, was aber das genetische Erbe der Bevölkerungsgruppen aus der Bronzezeit nicht ausgelöscht hat”, erklärt Iosif Lazaridis von der Harvard Medical School, Erstautor der Studie.
Die Erkenntnisse der Studie tragen dazu bei, einige Aspekte der Beziehungen im Griechenland der Bronzezeit zu erhellen. Dennoch bleiben viele Fragen offen. Die Wissenschaftler hoffen, im Rahmen künftiger Forschungsprojekte das Zeitfenster des möglichen neuen genetischen Zufluss auf die östliche Abstammungslinie und den Ablauf der Ankunft der nördlichen Steppennachkommen – allmählich im Laufe der Zeit oder in Form einer Massenmigration – erhellen zu können.