„Kein Anthropozän ohne uns!“
Die Geowissenschaft hat das "Zeitalter des Menschen" ausgerufen – jetzt fordern Sozialwissenschaftler eine breite und interdisziplinäre Diskussion
Die Geowissenschaft hat ein neues Erdzeitalter ausgerufen - das „Zeitalter des Menschen“. Anfang der 1950er Jahre habe es begonnen, globale Ablagerungen von Kunststoff-, Aluminium- oder radioaktiven Partikeln markierten seinen Beginn. In einem heute in Nature veröffentlichten Artikel kritisiert Nicole Boivin, Direktorin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena, gemeinsam mit Kollegen diese Festlegungen als ungenau und vorschnell. Die Formalisierung des Anthropozäns müsse das Ergebnis eines transparenten, breit geführten, interdisziplinären Diskussion sein, in der den Sozial- und Geisteswissenschaften eine zentrale Rolle zukommt.
In den nächsten drei Jahren soll die Erdgeschichte umgeschrieben werden. Im August hat die Anthropozän Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigraphie angekündigt, eine neue geologische Epoche zu definieren, das Anthropozän, das Zeitalter des Menschen. Als Kennzeichen für den Beginn des neuen Erdzeitalters sollen Ablagerungen in den jüngsten Bodenschichten dienen, die auf Technologien der 1950er Jahre zurückgehen wie Kunststoff-, Aluminium- und Betonpartikel, künstliche Radionuklide oder Veränderungen an Kohlenstoff- und Stickstoff-Isotopenmustern.
Älter und vielschichtiger
Nicole Boivin und ihre Kollegen Erle Ellis von der Universität Maryland (UMBC), Mark Maslin vom University College London und Andrew Bauer von der Universtät Stanford greift dieser Ansatz in vielerlei Hinsicht zu kurz. Er ignoriere, dass der Mensch bereits seit Jahrtausenden Einfluss auf die Erde genommen habe, von der Nutzbarmachung des Feuers bis zum Aufkommen der Landwirtschaft. Zugleich wird er dem kontinuierlichen Charakter des menschlich induzierten Wandels der Erde nicht gerecht. Durch den Rückgriff allein auf Marker, die den (westlichen) Industriegesellschaften entstammen, vermittelt er eine eurozentrische, elitäre und technokratische Darstellung der menschlichen Einflussnahme auf unsere Umwelt, die mit dem zeitgemäßen Denken in den Sozial- und Geisteswissenschaften nicht übereinstimmt.
Erle Ellis selbst Mitglied der Anthropozän-Kommission und Hauptautor des Kommentars beklagt die Einseitigkeit der Diskussion: „Jahrzehntelange, konsequente Forschung zu Geschichte, Ursachen und Konsequenzen der langfristigen Umgestaltung von Ökosystemen durch den Menschen finden kaum Beachtung. Wir sind/Ich bin jedoch der festen Überzeugung, dass wir die neue geologische Periode nicht definieren können, wenn wir nicht zugleich Entwicklungen wie die Entstehung komplexer Gesellschaftssysteme, Urbanisation, das Aufkommen weltweiter Handelsnetze, die Nutzung fossiler Brennstoffe beschreiben.
„Es begann als Flüstern“
Nicole Boivin unterstreicht das Prozesshafte des menschlichen Einflusses auf die Erde. „Es begann als Flüstern, wurde zur Stimme und dann zu einem Schrei. Wo also macht man da den Schnitt?“ Boivin nennt vier Hauptphasen, in denen die Menschen die Welt um sich herum so veränderten, dass es tiefgreifende Auswirkungen auf die Ökosysteme hatte: die globale Ausbreitung des Menschen im späten Pleistozän (am Ende der Eiszeit), die neolithische Verbreitung der Landwirtschaft in der Jungsteinzeit, die Ära der Besiedlung von Inseln durch den Menschen und das Aufkommen früher städtischer Gesellschaften und weltweiter Handelsbeziehungen. Alle diese Prozesse entwickelten sich schrittweise und zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten auf der Erde entstanden.
„Nicht ohne uns!“
Nicht zuletzt ist es die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe und die fehlende Transparenz in der Diskussion, die Boivin und ihre Kollegen kritisieren. Die Kriterien zur Formalisierung des Anthropozäns sollten veröffentlicht und wissenschaftlich begutachtet werden, anstatt sie wie bisher in nicht öffentlichen Sitzungen festzulegen. Die Koordination dieses Prozesse sollte durch eine multidisziplinär besetzte Kommission koordiniert werden und mindestens die Hälfte ihrer Mitglieder, schreiben Boivin und ihre Kollegen, sollte aus den Disziplinen Anthropologie, Archäologie, Geschichte, Soziologie, Geographie, Paläoökologie, Ökonomie und Philosophie stammen.